JOE CARNWATH | Biografie

BIG HEADS SMALL MINDS

Es gibt Anekdoten im Leben, die vergisst man einfach nicht. Für den gebürtigen Amerikaner Joe Carnwath gehört definitiv eine unverhoffte Begegnung mit Bono zu diesen einprägsamen Momenten. Welcher Straßenmusiker kann schon behaupten – und als solcher verdingte sich Joe Carnwath damals in London – von Bono spontan 300 £ zugesteckt bekommen zu haben, nur weil der irische Rockstar von der Performance des Amerikaners ganz begeistert war. Bis Joe Carnwath nun endlich sein Debütalbum unter Dach und Fach gebracht hat, das seine wunderbar sonore Stimme einem internationalen Publikum zugänglich machen wird, hat es allerdings dann doch seine Zeit gebraucht. 

„Big Heads Small Minds“ ist ein Album mit ausgesprochen melodiösen Songs, die in gewisser Weise Szenen einer Ära widerspiegeln, ohne in die Retro-Falle zu tappen. Die zehn Songs pendeln zwischen aufrichtigen Bekenntnissen und prachtvoller Pop-Sensibilität, sie offerieren eine Romantik, die ihre Wurzeln in jener Ära der britischen Popmusik hat, in der Morrissey, respektive die Smiths („Big Heads Small Minds“), Lloyd Cole („For Your Pleasure“) und Echo & The Bunnymen („What Are You Laughing At?“) ihre Blütezeit erlebten. Kurioserweise hat Carnwath all diese Künstler seinerzeit nur peripher wahrgenommen und ist nicht unbedingt ein Fan von Morrissey, auch wenn er einige Songs von ihm großartig findet, dagegen aber definitiv von Lloyd Cole, von dem er jedes Album besitzt. Es sind die melodischen Wendungen dieser stets griffigen Kompositionen von Carnwath, die den besonderen Flair dieses Albums ausmachen. Einerseits klingen die Songs ganz vertraut und greifen den Spirit des Achtziger-Jahre-Brit-Pop auf, andererseits sind sie so authentisch und eigenwillig, dass man sich bei diesem Künstler und seiner Musik einfach gut aufgehoben fühlt. 

Aufgewachsen ist Joe Carnwath in Großbritannien, genauer gesagt in den beiden Universitätsstädten Cambridge und Oxford. Die Nähe zu den akademischen Zirkeln führte zwar dazu, dass er auf dieselbe Grundschule ging wie die Kinder von dem Universalgenie Stephen Hawking, sein Vater auf derselben Etage arbeitete wie der berühmte Evolutionsbiologe Richard Dawkins und seine Mutter mit Stephen Hawkings Frau Tennis spielte, aber das studentische Leben eines jungen Bohemien übte in Teenagerjahren einen größeren Reiz aus als das bedingungslose Streben nach einer akademischen Karriere. Als er mit 16 Jahren die Stray Cats im legendären Town & Country Club in London live erlebte, stand für ihn fest: Ich will auch Musiker werden. Seine ersten Schritte in diese Richtung machte er dann tatsächlich als Straßenmusiker in London, wo es nicht nur zu der eingangs erwähnten Begegnung mit Bono kam, sondern auch mit einem Clubbesitzer aus Schweden, der ihn einlud, in seinem Club in Uppsala aufzutreten. Eine Einladung, die Carnwaths Schicksal nachhaltig verändern sollte.

Denn dadurch lernte er in dem Club Katalin seine heutige Frau kennen und lieben, für die er nach Schweden auswanderte und mit der er eine Familie gründete. Heute leben sie mit ihren Kindern in Stockholm. Hier hat Carnwath auch in der schwedischen Musikszene einige Erfahrungen gesammelt, er arbeitete unter anderem mit dem Trio Peter Bjorn and John und der Sängerin Likke Li zusammen. Trotz aller Projekte und Bands, in die er sich als Musiker einbrachte, verlor er seine Solokarriere nie aus den Augen. Sein erstes Soloalbum ist denn auch das Ergebnis jahrelanger Vorbereitung. Das befreiende Element in dem Schaffensprozess bestand, wie er selbst sagt, darin, dass er sich nicht unter Druck setzte, es mit diesem Album unbedingt schaffen zu müssen. 

Alle Songs stammen aus der Feder von Joe Carnwath selbst, der sie auch über weite Strecken im Alleingang aufgenommen hat. Seine Stimme, ein warmer Bariton, der nicht nur raumgreifend wirkt, sondern auch mit feinen melancholischen Untertönen unwiderstehlich Charme verbreitet, ist neben den exzellenten Gitarrenklängen eine der großen Stärken des Albums. Es ist, als flüstere einem eine gewaltige Stimme ins Ohr. Frei nach dem Motto „Kreativität spart Kosten“ hat sich Carnwath viel Zeit mit den Aufnahmen gelassen, wobei es sich als kluge Entscheidung erwies, den renommierten Produzenten Johan Carlberg hinzuzuziehen und sich zusätzlich von dem profilierten Schlagzeuger Brady Blade (Emmylou Harris, Steve Earle, Indigo Girls) unterstützen zu lassen. Auch wenn die Songs mehr zum Tagträumen verleiten mögen und wohl kaum jemanden auf die Tanzfläche locken werden, sind sie stets spannungsgeladen und gehen unter die Haut. „Ich hoffe, dieses Album bietet eine gute Mischung aus amerikanischem Optimismus, britischem Realitätssinn und jener entspannten Liebe zum Detail, wie sie für Schweden typisch ist“, sagt Carnwath. Mal verbreiten die Songs unaufdringlich lockere Euphorie, wie etwa „Waiting For The Flash“ oder „Boys Will Be Boys“, das an den Pop-Appeal von Edwyn Collins zu seinen besten Zeiten erinnert. Verträumte Momente wie „Queen Of The Winter“ und das zärtlich walzerhafte „The Fountain Of Youth“ wechseln sich hingegen ab mit lyrischen Momenten wie „Just Because You’re Sad“, in der Melancholie von Optimismus überstrahlt zu werden scheint, und sommerlichen Hymnen wie „Your Mamma“ und „Tokyo (Where is the romance?)“.  

Mittlerweile gibt es zwei Low-Budget-Videoclips zu Songs des Albums: In „For Your Pleasure“ hat sich Carnwath über mehrere Monate hinweg zu verschiedenen Jahreszeiten beim Joggen filmen lassen. Eine ebenso einfache wie überzeugende Idee, bei der der Wechsel der Jahreszeiten ein Drehbuch ersetzt. Noch rastloser wirkt der Clip zu „What Are You Laughing At?“, bei dem ein mit einem View-Master bewaffneter Carnwath im Auto unterwegs ist und etwas zu verfolgen scheint, ohne dass der Betrachter festzustellen vermag, was es sein könnte.

Joe Carnwath ist nicht nur ein kreativer Songwriter, der sich visuell bestens in Szene zu setzen weiß, sondern auch ein exzellenter Livemusiker. Derzeit stellt er eine Band aus schwedischen Musikern zusammen, mit denen er auf Tournee gehen will, um „Big Heads Small Minds“ einem größeren Publikum vorzustellen. Man sollte die Augen aufhalten. Schließlich gibt es hier wirklich etwas zu entdecken: Großartige Songs ohne Großspurigkeit. Himmelsstürmende Melodien mit Bodenhaftung.

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