AMANDA RHEAUME | HOLDING PATTERNS

Über Red Dress

 „Je tiefer wir in diese Idylle vorstoßen, desto düsterer wird die Stimmung unserer Fahrerin Gladys Radek. Immer wieder legt sie den Patsy-Cline-Song „The Eyes of a Child" auf, eine Ballade über die Sehnsucht nach einer Kindheit, die es so für Gladys nie gegeben hat.

Sie ist vor 56 Jahren im Reservat der Gitsegukla-Indianer von British Columbia zur Welt gekommen, doch Heimatgefühle kommen nicht auf, wenn sie über den Highway 16 fährt, den sogenannten Highway of Tears. 

„Zu viele Gespenster", sagt sie.

Die Gespenster, das sind die Frauen, die entlang des 700 Kilometer langen Highways immer wieder spurlos verschwinden. 18 sind es nach offiziellen Polizeiangaben, 17 von ihnen Indianerinnen. Amnesty International geht jedoch davon aus, dass es noch wesentlich mehr Fälle gibt. Aufgeklärt wurde nicht ein einziger.” (aus „Unterwegs auf der Straße der Tränen”, Sebastian Moll, Spiegel Online vom 28.06.2016)

„Schätzungsweise 1180 indigene Frauen und Mädchen wurden in Kanada ermordet oder sind verschwunden.” Mit dieser Einblendung beginnt das Video von „Red Dress”, dem beeindruckenden Song der indigenen Sängerin und Songwriterin Amanda Rheaume. „Red Dress” ist der Schlüsselsong des Albums „Holding Patterns”, mit dem die kanadische Sängerin und Songwriterin auch hierzulande für Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit kämpft. Zugleich ist der Song ein Benefizprojekt für das Native Women’s Association of Canada’s Safety and Violence Prevention Program. Unterstützt wurde Amanda Rheaume, selbst indigene Künstlerin und von dem Thema daher weitaus persönlicher betroffen, von der kanadischen Musikerin Chantal Kreviazuk, die 2014 mit dem Juno Humanitarian Award ausgezeichnet wurde und selbst Mutter dreier Kinder ist. Denn das Trauma und die Unterdrückung, die die Geschehnisse in Kanada besonders unter der indigenen Bevölkerung des Landes ausgelöst haben, fordern Solidarität und ein klares und kraftvolles Statement. 

Das Thema von „Red Dress” brannte Amanda Rheaume dermaßen auf der Seele, dass sie den Song an einem einzigen Abend schrieb; bei der visuellen Umsetzung, die ein wenig an Madonnas „Frozen” erinnert, wirkte die Tanzkünstlerin Aria Evans mit, die selbst indigene Vorfahren hat. Der Song ist zum Teil eine Reaktion auf jene Menschen, die infam genug sind zu behaupten, dass die Opfer der Morde oder des Verschwindens selbst Schuld daran trügen – ohne in Betracht zu ziehen, dass Prostitution und Drogensucht auch etwas mit dem seit Dekaden schwelenden Genozid indigener Völker zu tun hat, den auch ein vermeintlich liberales Land wie Kanada wenn nicht fördert, so doch in Kauf nimmt.

Inspiriert wurde der Titel zudem von Amandas Empörung über den Gerichtsprozess zum Tod von Cindy Gladue (http://www.ctvnews.ca/canada/cindy-gladue-case-why-the-not-guilty-verdict-has-sparked-outrage-1.2309102) und durch ihre Teilnahme an den MMIWG-Demonstrationen in Ottawa – die zu einer Zeit stattfanden, in der die kanadische Künstlerin begann, sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Ein Prozess, den Amanda Rheaume auf ihrem für einen Juno nominierten Album „Keep A Fire” kongenial und packend dokumentierte. 

Das nun zwei Jahre alte Album war eine Sammlung von privaten Familiengeschichten, viele davon hatte ihr Großvater ihr erzählt, der bereits verstorbene Eugene Rheaume, der als Vertreter der ethnischen Minderheit der Metis sogar im kanadischen Parlament saß. Der Titelsong beschrieb, wie Amandas Urgroßmutter (vom Stamm der Ojibwe) und ihr Urgroßvater (ein Europäer) lange Zeit im Exil im Norden von Manitoba leben mussten und von beiden Seiten der Familie im Grunde genommen nicht toleriert wurden.

„Red Dress” ist Amandas nachvollziehbarer und bewundernswerter Versuch, das Private zum Politikum zu machen, und eine Reflektion darüber, dass verschwundene Frauen eine Geschichte haben, die in der betreffenden Familie Dramen auslöst, wie dies ähnlich auch in ihrer eigenen Familie der Fall war. Aber jedes Schicksal enthält eine Welt voller Möglichkeiten, derer sie nun beraubt sind – ob sie noch leben oder nicht.

Über Holding Patterns

Für die anderen Songs auf Holding Patterns kehrt Amanda wie selten zuvor zu den persönlicheren Themen zurück.

Zu den ungewöhnlichsten Stücken des Albums, produziert von dem aus Ottawa stammenden Singer-Songwriter Jim Bryson, zählt „The Day The Mountain Fell”, eine wahre Geschichte, die Amandas Großvater ihr erzählt hatte. Sie handelt von einer entfernten Cousine, die in den 1950ern in den Medien als das „Wunderkind” berühmt wurde. Sie hatte einen Erdrutsch in der Nähe von Mount Hays im nördlichen British Columbia überlebt, weil die Erdmassen einfach ihre Wiege angehoben und mit sich trugen.

„The Wolf Of Time” basiert auf einem Bild, das Amandas Großvater gerne heraufbeschwor, um die Menschen daran zu erinnern, an der Realisierung ihrer Träume zu arbeiten. Inspiriert wurde es von dem Tod von Fraser Holmes, einem 28jährigen engen Freund von Amanda, mit dem sie gemeinsam Musik gemacht hatte und der kurz zuvor an Leukämie verstorben war. 

Viele der anderen Stücke sind zutiefst persönliche und verwundbare Reflektionen über das Ende von Amandas schwierigen langjährigen Beziehungen und die außergewöhnlichen Probleme, die auftreten, wenn zwei Frauen, die beide ähnlich erzogen wurden, die freundlich sind, konfliktscheu und stets bemüht, Probleme zu benennen und so zu lösen – wenn solche Frauen also in einer Beziehung verbleiben, die von Anfang an unter keinem guten Stern stand, weil keine der beiden so gemein sein will, die Partnerschaft zu beenden und beide daran glauben möchten, dass sie es schaffen, wenn sie sich nur genug bemühen. 

„Time To Land“ handelt davon, wie man in jeder Beziehung immer wieder in die selben Verhaltensmuster zurückfällt und dabei andere Ergebnisse erwartet – und wie man sich schlussendlich entschließen muss, diese Muster aufzubrechen. 

„Blood From A Stone” ist der Song, mit dem Amanda den Stinkefinger zeigt, ihre Variante von „You Oughta Know.”

Über Amanda Rheaume

Amanda hat eine kräftige, leicht raue Stimme, ein Gefühl für eingängige Melodien und die Fähigkeit, Roots-Pop-Arrangements zu zaubern, die einem sofort ins Blut gehen. 2014 gewann sie den Canadian Folk Music Award for Aboriginal Songwriter of the Year und wurde für den Juno-Award nominiert. Zudem kam sie auf die Shortlist des Council for the Arts für Ottawas RBC Emerging Artist Award.   

2007 veröffentlichte sie ihre ersten EPs und im folgenden Jahr erhielt sie enorme finanzielle Unterstützung, als sie $40,000 bei dem von dem Radiosender Live 88.5 organisierten Wettbewerb 2008 Big Money Shot teilnahm. 

In Ottawa machte sie sich schnell einen Namen als großzügige, der Gemeinschaft verschworene Künstlerin und Aktivistin, so war sie etwa an der Organisation des Babes for Breasts Konzert und damit verbundenen Albumprojekten beteiligt; bildete die Sturmspitze bei Ottawas Bluebird North Songwriter Showcases; trat dreimal vor den in Afghanistan stationierten Truppen auf; sammelte Geld für die Angehörigen von Militärmitarbeitern und verkaufte allein in Ottawa 6500 Weihnachts-EPs um Geld für die Boys and Girls Clubs of Ottawa zu sammeln.

Die Veröffentlichung von Holding Patterns und „Red Dress” führt Amandas langjähriges Engagement fort – wieder sammelt sie mit ihrem Werk als Künstlerin Geld und macht sich für Veränderungen stark – nur ist es diesmal noch dazu sehr persönlich motiviert.

Skyline